letzte Kommentare / Könnse den nicht mal vorbeischicken? Hier herrscht PROKRASTINATOR. Lakritze / LOL liuea | |
08
Januar
Drei Tage in der Heimatstadt. Termine mit Wohnungsauflösern, Notar, Immobilienmaklern und -sachverständigen. Es gilt, den Nachlass zu sichten, sortieren, ordnen, verwalten, taxieren. Und daraus resultierend neue, womöglich weitreichende Pläne zu machen. Um die emotionale Topographie erfahrbar zu machen, verzichtete ich erneut komplett auf die Autobahn und fuhr einfach die ganze Strecke über Land. Ich hatte ja alle Zeit der Welt. Und sechseinhalb Stunden über Land sind letztlich weniger kraftzehrend als viereinhalb über A2/A1. Nebenher ist es auch guter Geographieunterricht. Silence is onSince you been gone Silence is on Since you been gone Man stellt dann auch fest, wie viele sagenhaft verrotzt-scheußliche Ecken es in Deutschland gibt (Lüdenscheid, Werdohl, etc.) und wieviele wunderschöne (Teile des Hochsauerlands, das Harzvorland) Über weite Strecken war ich allein, keine anderen Autos. Ich hörte The Notwist, dachte nach, ließ Erinnerungen aufblitzen und verlöschen. Beim Blättern in alten Alben, Stammbäumen und und bis dato nicht gesichteten Briefen der nun beiden beerdigten Eltern komplettierte sich das Familienbild. Und es veränderte sich auch noch einmal gehörig der Blick auf die beiden. Gut hatten sie es miteinander. Und gut haben sie es sich miteinander gemacht. Nie hatten sie gestritten, aneinander genörgelt oder dem jeweils anderen sein Glück versagt. Das war im Nachhinein nochmal wichtig zu sehen, denn so - und nicht anders - hat es zu sein, wenn zwei sich dauerhaft zusammentun. All the wrong things I can doCall on me when I'm without you All the wrong things I can do Follow me when I'm without you Das ist die Messlatte, drunter sollte man es nicht machen. Wem dieses Glück nicht beschieden ist, der sollte so lange suchen, bis er so jemanden findet. Genau so jemand wartete daheim auf mich und briet mir ein Zitronenhuhn nach griechischem Rezept. One room for us
11
Juli
Wenn man dann also Sonntagabends bei einem vorsichtigen und achtsam genossenen Martini sitzt und weiß, dass man die Zweitimpfung mit erstaunlich geringer Impfreaktion (8 Stunden lang leicht erhöhte Temperatur, 16 Stunden lang reichlich müde gewesen, 16 Stunden erträgliche Schmerzen im Arm, alles 48 Stunden nach der Impfung komplett verschwunden) erfolgreich hinter sich gebracht hat, dann bekommt man erneut Hochachtung vor der evidenzbasierten Naturwissenschaft. Und man empfindet enormen Dank für die zahlreichen Biologinnen und Biologen, Medizinerinnen und Mediziner und werweißwasnoch, die TROTZ der überwiegend dumpfbackig agierenden Politik und TROTZ der Knüppel, die "Querdenker", Impfgegner und dergleichen ihnen zwischen die Beine werfen, UNBEIRRT forschen und machen und innerhalb kürzester Zeit mehrere wirksame Impfstoffe ersinnen und produzieren. Man empfindet auch ein gerüttelt' Maß an Hochachtung und Staunen gegenüber dem eigenen Körper, der - lediglich durch ein paar Milliliter farbloser Flüssigkeit getriggert - mit ein wenig Summen und Brummen in den Blutgefäßen, Muskeln und Lymphbahnen eine kleine Armee und Spähposten in Stellung bringt, dem Virus alsbald zu trotzen. Und tatsächlich kommt jetzt auch eine Erleichterungswoge, dass es einen jetzt wohl vermutlich erst mal nicht erwischen wird - und wenn, dann wohl ohne größere Malaisen. Der potenzielle Tod, anderthalb Jahre lang als ungewollter Dauerbegleiter wie eine Krähe auf der linken Schulter sitzend, er ist erst einmal davongeflattert. Normalität oder das, was man vor Covid19 dafür hielt, ist weit entfernt und wird wohl nie wieder dieselbe sein. Aber man hatte zumindest auch nochmal die Gelegenheit, die einen umgebenden Menschen und Beziehungen neu zu sortieren. Viele wurden wichtiger, einige wenige mussten leider raus aus dem Spiel, es gab neue Verbündete und neue Allianzen - und damit war jetzt tatsächlich ein kleiner Vorhang gefallen, einer von vielen Akten eines Theaterstücks durchstanden. Noch reichlich tapsig lugte man in neue Möglichkeiten, Optionen und Erfreulichkeiten.
22
April
Es gab kein Jahr mehr, keine Monate mehr, keinen Jahresrückblick 2020. Es war alles zu einer einzigen Sauce geworden. Insgesamt war man erstaunlich gut davongekommen. Bisher keine Covid19-Infektion, finanziell lief's auch nach einem kurzen Schreckmoment im März 2020 besser denn je: Es kamen immer mehr Aufträge rein und man gab immer weniger Geld aus. Die Kontostände wuchsen mählich und konstant, die Börseninvestements wurden wagemutiger, der Lada wurde verkauft und durch einen eher weniger schönen Ford Escort ersetzt, der aber - und jetzt kommt's - ein CABRIO war. Im Sommer, falls denn einer noch kommen würde, würde man also offen herumfahren. Im Herbst würde dann wieder ein richtiger Oldtimer gekauft werden. Bis dahin fuhr man auf Sicht. Mehr ging ja auch nicht.
18
September
Schwups: war es Herbst. Und ich musste nochmal aufs Rad. Den Saaleradweg nach Halle fahren. 95 Kilometer - und mit den bösen Höhenmetern gleich zu Beginn und dann nochmal am Schluss. Fordernd, aber schön. Immerhin hatten sich keine der wirtschaftlichen Sorgen bestätigt. Das Agenturgeschäft lief besser denn je, eine angefragte Gehaltsanpassung wurde nicht nur durchgewunken, es wurde sogar was draufgelegt. Das selbstständige Gewerbe als Redakteur brummte laut. Der Kommunikationsbedarf der Kunden war hier wie dort groß; wohl dem, der schreiben konnte und diesen Bedarf decken. Noch dazu war die Steuerrückzahlung großzügiger ausgefallen als erwartet - und die künftigen Vorauszahlungen niedriger als erwartet. Konnte man jetzt fast schon wieder investieren und nach einem zweiten Oldtimer lugen. Das Business der Gattin zog ebenfalls an. Durch Empfehlungen gab es einen neuen, hochinteressanten Kunden, der künftig vermutlich kräftig zu melken war. Das ließ sich alles sehr gut an. Die Gattin hatte sich todesmutig und unbeirrt ein Pferd gekauft, against all odds. Und das war eine gute Idee gewesen. Sie so glücklich zu sehen, alleine das war es wert. Und das Landleben mit nunmehr Pferd, Katze, Ochse, Hühnern, Hahn und Hund vervollständigte sich. Natürlich waren die Gefahren nicht gebannt. Das Land hatte sich verändert. Verschwörungstheoretiker und sorglose Deppen schickten sich wieder und wieder an, die Meinungsführerschaft zu übernehmen und das bisher Erreichte in Bezug auf Pandemiebekämpfung zu vereiteln. Sturm auf den Reichstag von einer verqueren Truppe, nur so eben verteidigt durch einige wenige Polizeikräfte. Ich erwartete einen dunklen Spätherbst und Winter. Wenn erst mal wieder alle drinnen würden hocken müssen, hätte das Virus neue Chancen. Und der Lagerkoller der Menschen würde zunehmen. Das war hochexplosiv. Man konnte jetzt nur auf Sicht fahren. Es war die Zeit der Besitzstandwahrung oder auch des Tanzes auf dem Vulkan. Trotzdem war ich auf eine numinose Art und Weise glücklich, im Frieden mit mir selbst. Ich blickte nach links, wo das Weib am Rechner saß und einen gutdotierten Eilauftrag wegperformte. Gemütliches Schreibtischlampenlicht, sanfte Illumination der Monitore, Vorfreude auf den Besuch netter Menschen, die morgen hier mit einem Renault Mégane einfahren würden. Grillen, plaudern, essen, trinken. Mit dem Kollegen ein wenig Schlagzeug/Hammondorgel rumdaddeln. Mir war wohl zumut'.
16
Juni
Bei 30°C aufs Rad. Schwitzen. Gleiten. Rasen. Glühender Fahrtwind. Den Quatsch der Woche wegstrampeln. Man sah wieder Licht nach zermürbenden Gefechten mit der ehemaligen Hausbank, Paketdiensten und anderen Unzulänglichkeiten des Lebens. Das Drittbusiness lief nach einigen Zäsuren wieder. Das Erstbusiness sowie und das Zweitbusiness auch. Zähigkeit war gefragt. Und vorhanden.
25
Mai
Covid-19 hatte die Welt verändert. Hatte Bekannt- und Freundschaften neu sortiert. Hatte gezeigt, wo Blödheit herrschte und hauste - und wo kluge Resilienz waltete. Eingekehrt war ein allumfassendes Segeln auf Sicht statt großkotziger Pläne. Man wurschtelte sich von Tag zu Tag durch. Und verspürte ex negativo ganz neue Freiheiten. Erstaunlicherweise hatte man - ohne es bewusst zu tun - gleich mehrfach auf die richtigen Pferde gesetzt. Das Landleben hielt einen von den Irren weg, die Geschäfte liefen, man schaute sich das alles aus sicherer Entfernung an.
16
März
Das Jahr 2020 hatte noch weitere Überraschungen parat. Völlig unvorbereitet blickte man selbst, blickte das Land, blickte die Politik, blickte die Weltwirtschaft auf infektiöse organische Strukturen, die aufgrund ihrer Winzigkeit eben gar nicht zu erblicken waren. Da hatte also Covid-19 die Stirn besessen, die Weltherrschaft anzustreben und sich in einer Geschwindigkeit und Geschicklichkeit zu replizieren, die der Welt im Wortsinne den Atem raubte. Die Kollateraleffekte waren beträchtlich. Erstmals nach dem 2. Weltkrieg waren Regale in Geschäften leergefegt, Arztpraxen und Krankenhäuser am Rande ihrer Leistungsfähigkeit (oder darüber hinweg), gewachsene Strukturen obsolet und der Generationenvertrag einmal mehr infrage gestellt. Während sozialistische bzw. unter einer Diktatur stehende Völker der Situation nach einer kurzen Schrecksekunde einigermaßen konsequent und diszipliniert begegneten, ruderte ein zerfallenes Europa hilflos und uneins umher, lief sehenden Auges ins Verderben. Die Funktionäre in Politik und Gesundheitswesen zeigten sich als inkompetente Zauderer, frei von jedwedem visionären Denken und antizipatorischer Kraft. Und die westlichen Völker in Deutschland, Italien und anderswo hatten es natürlich auch nicht anders verdient, denn sie ergaben sich niedersten Instinkten wie Geiz und Gier. Es kam eine Welle der erzwungenen Entschleunigung über das Land. Der Reisewahnsinn, der Präsenzwahnsinn, der kapitalistische Vermehrungswahnsinn - alles wurde ausgebremst und ins Nirgendwo katapultiert. Ein Donald Trump, der nicht mal durch einen Impeachment-Prozess aufgehalten werden konnte, würde sehr wahrscheinlich über diesen kleinen unsichtbaren Virus stürzen. Entweder politisch oder höchstpersönlich - durch eine Infektion. Man selbst lebte relativ unbeschadet das Leben weiter, für das man sich vor anderthalb Jahren entschieden hatte - weit genug weg von allen Großstädten, vor allem aber weit genug entfernt von einem ebenso unregierten wie unregierbaren Berlin. Man war jetzt so gut gestellt, dass selbst eine Ausgangssperre folgenlos für einen war. Man hatte einen Hof und einen geräumigen Garten, die Kühltruhe voll von bestem Biofleisch, die Speisekammer voller Lebensmittel, den Stall voller Hühner, die Hausbar prall gefüllt. Es würde einem nichts mangeln. In den nächsten Wochen und Monaten würde sich die Welt gesellschaftlich wie geopolitisch neu sortieren, der Jahresbericht der Deutschen Rentenversicherung Bund würde in der folgenden Ausgabe völlig neu zu schreiben sein, alle Vorlage der letzten beiden Jahre würden ausgedient haben. Würde man jetzt alles erst mal sehen müssen.
05
Februar
Das Jahr 2019 endete anders als die bisherigen. Statt in der Victoria Bar eine gemächliche Jahresrückschau abzuhalten und zu verschriftlichen, bestieg ich kurz vor Silvester eine Boeing der Singapore Airlines und flog über Singapur nach Neuseeland. In Christchurch nach 37 Stunden Reise - davon netto 25 Flugstunden - angekommen, war man etwas zermatt. Zum einen erschlug die Effizienz des neuseeländischen Flughafens: Als man aus der Immigration-Befragung raus war, wartete bereits das Gepäck am Gepäckband. Draußen gleißendhelles Licht, frühlingshafte Temperaturen und eine Sauberkeit, wie ich sie noch nie in einer Großstadt sah. Ankunft gegen 13 Uhr im Hotel, ein kleiner Imbiss im Straßencafe, danach ab in die Heia. Das Weibchen stellte sich noch einen Wecker für 23:30 Uhr, um das Silvesterfeuerwerk vom Hotelfenster aus zu betrachten, der Herr schlief kommod 15 Stunden durch und hatte am nächsten Vormittag seinen Jetlag mit weggeschlummert. Man holte dann einen abgerockten Ford Focus mit 156.531 km auf der Uhr von Apex Car Rentals und machte sich auf den Roadtrip. Christchurch - Otago-Halbinsel - Curio Bay - Manapouri - Wanaka - Pine Grove - Okarito - Punakaiki - Collingwood - Havelock - Picton - Wellington - Rotorua - Warkworth - Mangonui - Auckland waren die Schlafstationen, dazwischen erledigte man Tagestouren, wanderte, fuhr Boot und Bus, schaute und staunte. Noch nie war man so weit weg von allem gewesen. Arbeit, Behörden, Familie, Freunde, Feinde - das alles war, mit zwölf Stunden Zeitverschiebung - sprichwörtlich auf dem anderen Ende der Erde, unerreichbar. Gut so. Keine Nacht schlief man weniger als 12 Stunden. Und die Augenringe verschwanden. Man blickte ins Licht, ins Dunkel, in den Schatten, in die Sterne. Sah unberührte Strände, noch nie gesehene Tiere und Pflanzen, undurchdringliche Wälder, schneebedeckte Bergspitzen und Gletscher, weite Ebene und hügelige Hobbit-Landschaften, Geysire und kochende Seen. Die Natur hatte hier das Sagen und man spazierte nur als Gast in ihr herum. Deppen aus der alten Welt sprachen von Flugscham. Dabei schafft ein einziger Neuseeland-Aufenthalt mehr nachhaltiges Umweltgewissen als jede Fahrradtour. Doch diese Rechnung können sie ja alle nicht aufstellen. 18.600 Flugkilometer, 4.500 Autokilometer, 12.500 Euro verbraten. In allen Hinsichten Rekorde. Ganz nebenbei hatte man festgestellt, dass es um die körperliche Fitness nicht zum allerbesten bestellt war. Steile Sandberge bergauf bei Gegenwind von Windstärke 7 und so hellem Sonnenlicht, dass nicht mal die Sonnenbrille reicht - man hatte das alles schon mal zügiger getan. Aber so hatte man wieder Pläne und Ziele. Es gab so viel zu sehen. Jeder Tag war wie ein Adventskalendertürchen. Vier Wochen lang fahren, staunen, laufen, essen, trinken, schlafen - ein Leben ganz ohne Erwerbsarbeit, ohne Computer, zumeist auch ohne aktive SIM-Karte. Auf Du und Du mit einem sehr großen Seelöwen. Auch mal eine Erfahrung. Der Blutdruck normalisierte sich. Der Körper regenerierte sich. Alles wurde leicht und schön. Und man hatte zwei neue, sehr geile Bars kennengelernt.
|